Grünkohl & Pinkel

Grünkohl

Der Grünkohl bringt im Winter Oldenburger, Friesen und Bremer in Scharen auf die Beine. Dann bricht die 5. Jahreszeit in Norddeutschland an. Er ist zum Zentrum eines Brauchs geworden, den man getrost als norddeutschen Karneval bezeichnen kann, auch wenn die Kostümierung norddeutsch-dezent ausfällt. Von Buß- und Bettag bis zum Gründonnerstag wird dieser alte Brauch in Norddeutschland und Teilen Skandinaviens gepflegt. Vor allem in den Hochburgen Oldenburger Land und Bremen/Bremerhaven aber auch zwischen Ems und Aller sowie Elbe und Weser sogar in Osnabrück und Braunschweig besitzt das Grünkohlessen einen hohen gesellschaftlichen Stellwert. Innerhalb des Einzugsgebietes der Grünkohlessen haben sich regionale Zubereitungsunterschiede herausgebildet. Dabei beschränken sich die Rezepturen auf mehr oder weniger angedickte Kohlbeilagen, doch auch ausgesprochene Grünkohl-Eintöpfe (z.B. im Emsland) sorgen für Abwechselungen.

Im Oldenburger und Bremer Raum, in Ostfriesland und im Gebiet Westfalens wird der Kohl zumeist mit Grütze und/oder Haferflocken gekocht und zusammen mit Kartoffeln und diversen Fleischbeilagen serviert. Die Fleischbeilagen zum Grünkohl sind und waren ebenso regional unterschiedlich. In Bremen und Oldenburg werden neben der Pinkelwurst, einer geräucherten Grützwurst und Namensgeber der "Kohl- und Pinkelfahrten", noch Kassler Rippspeer (der Kasseler Rippenspeer ist übrigens kein typisch norddeutscher Leckerbissen und kommt auch nicht aus Kassel. Ein Herr Kasseler, seines Zeichens Schlachter in Berlin, erfand diese Delikatesse, die zur klassischen Grünkohlbeilage aufstieg), durchwachsener Speck und Kochwurst serviert.

In Emden isst man den Grünkohl ohne Pinkel, der wiederum im Jeverland zusammen mit dem Speck nicht fehlen darf. In Südoldenburg wird zum Kohl geräucherte und frische Mettwurst, Kasseler und Bauchspeck aufgetischt und in Westfalen gelten die "Mettendchen" (= kleine, geräucherte Mettwürste) als klassische Beilage. Im Osnabrücker Land, Hamburg und Schleswig Holstein isst man auch Grünkohl traditionell mit Kasseler, Kohlwurst oder grober Bratwurst, Röstkartoffeln und oft auch mit Zucker bestreut. Ebenso ist den Hannoveranern, Braunschweigern und Hildesheimern die Pinkelwurst nicht bekannt. Dort wird Brägenwurst (Bregenwurst) zum Braunkohl gereicht, eine rohe bzw. leicht geräucherte Mettwurst aus Schweinebauch, Hirn vom Rind oder Schwein, Zwiebeln, Salz und Pfeffer. Ihren Namen hat die Bregenwurst übrigens vom plattdeutschen Bregen oder Brägen, was "Hirn oder Kopf" bedeutet. Heute wird sie wegen der BSE-Gefahr ohne Hirn zubereitet.

In Mecklenburg und Vorpommern wird Grünkohl dagegen traditionell als Wintergemüse mit Kasseler, Lungenwurst oder Schweinebacke zu Salzkartoffeln gegessen.. Auch in den Niederlanden wird dieser Kohl in Form eines Eintopfes mit Kartoffeln und Gelderländer Räucherwurst als nationales Wintergericht serviert.

Sowohl Bregenwurst (auch Brägenwurst), als auch Pinkel sind untrennbar mit dem Grünkohl verbunden und werden auch nur für die Wintersaison hergestellt. Die Zusammensetzung dieser regionalen Beilage wird in folgender Quelle so treffend beschrieben: Pinkel aber giebt es vielleicht nirgends in der Welt als in der guten Stadt Bremen. Es ist ein uraltes Gericht und verdient nicht nur seiner Ehrwürdigkeit, sondern auch seiner Güte wegen eine nähere Beschreibung. 'Pinkel' bedeutet ursprünglich in der niedersächsischen Mundart den Mastdarm des Ochsen. Der Mastdarm ist schon von Natur fett. Man stopft ihn mit Hafergrütze, Zwiebeln, Fleisch, Fett und Gewürzen und bereitet so eine Art Wurst, welche sehr kräftig und fett ist und dem feinen Kohl das giebt, was ihm fehlt. Diese Pinkelwurst kommt zusammen mit dem Kohl dampfend auf den Tisch, und man muß sie sofort, mit Beiseitelassung alles Anderen, in heißem Zustande essen; denn wenn sie nicht mehr ganz warm sind, schmeckt weder der Kohl noch die Wurst gut" (Braun 1879). Und dann taucht da immer wieder der nicht allzu ernst gemeinte Nachbarschaftsstreit auf, der sich um die Fragen dreht "wer wohl die Ersten waren, die diesen Brauch pflegten und somit Urheberrechte haben und wo wohl der Kohl am besten schmeckt und wer die beste Pinkelwurst hat usw., usw."?

Im Norden Deutschlands streiten sich daher alle Jahre wieder, vor allen Dingen die Städte Bremen und Oldenburg darum, wessen Spezialität das "Kohl- und Pinkelessen" denn nun sei. Die längste Tradition können die Bremer nachweisen, die seit 1545 ein öffentliches Grünkohlessen zelebrieren, dicht gefolgt von den Oldenburgern. Den Charakter eines Brudermahls hat die in Bremen ausgerichtete "Schaffermahlzeit" bereits seit ihrer Gründung 1545, als Bremer Handelskapitäne das "Haus Seefahrt" gründeten, um als Stiftung in Not geratenen Seeleuten helfen zu können. Jeweils am zweiten Freitag im Februar kamen die Mitglieder zur Rechnungslegung zusammen. Dabei wurde gut gegessen und getrunken, denn die Zusammenkunft war gleichzeitig das Abschiedsessen für die in See stechenden Kapitäne. Die Speisenfolge, Kohl und Pinkel mit Stockfisch und dunklem Seefahrtsbier, hat sich bis heute gehalten. Nicht jedoch die Bedeutung des Schaffermahls, das seinen Namen durch die zusätzliche Aufnahme von Bremer Kaufleuten ("Schaffern") - die zudem als neu hinzukommende "Novizen" die Kosten für das Essen zu übernehmen haben - erhalten hat. Für Bremen hat das Schaffermahl primär wirtschaftspolitische Bedeutung, und so setzt sich der Kreis der Teilnehmer aus verdienten Kaufmannschaften, Kapitänen und geladener auswärtiger Prominenz zusammen. Frauen nahmen bis vor kurzem nicht daran teil. Als erste Lady wurde im Februar 2007 Frau Merkel als Bundeskanzlerin zum Schaffermahl daran geladen. Die Oldenburger verweisen auf einen Brief des Gelehrten Justus Lipsius aus dem Jahre 1586. Dieser befand sich auf der Durchreise von Brabant nach Hamburg und musste in Oldenburg Quartier beziehen. Er schrieb an seinen Freund folgendes über die vorherrschenden Tischkulturen der Oldenburger nach Brabant: "Da bin ich in Oldenburg. Wo liegt das Ding, wirst Du fragen? Es ist ein westphälisches Städtchen, ein wahres Nest .... Alles übel, was Menschen treffen kann, hat mich betroffen: denn alle Elemente waren wider mich in Aufruhr. Und die Speisen - kaum menschlich sind sie. Du kennst meinen Körper, und weißt, dass nur ausgewählte Speise ihn empor hält. Nun denke dir die Kost in den hiesigen Wirthshäusern! Was sag' ich, Wirthshäuser? Ställe sind es .... Da sitzt man dann mit den Fuhrleuten und Schweinetreibern um's Feuer, trinkt, was sie trinken, und bey jedem Trunk reicht man sich feyerlich die Hand. Indeß wird der Tisch gedeckt ... Siehe da, das erste Gericht! Dicker Speck und roh dazu! 0 mein armer Magen! Was soll ich machen? Andere Kost fordern, das darf ich nicht ... Doch da kommt der ersehnte zweyte Gang, die Hauptschüssel! eine ungeheure Kumme voll braunen Kohls! Einen Finger breit darüber her fließt die Brühe von Schweinefett. Diesen Ambrosia essen meine Westphälinger nicht, sie verschlingen ihn. Mich ekelt er an ... Das letzte Gericht ist ein Stück Käse, so verdorben, dass er fließt. Aber grade das halten sie für den Ausbund von Leckerey. So ist's auf dem Lande, nicht viel besser in den Städten."

In Westfalen wird auch anderswo seit je her traditionell ein Grünkohlessen serviert. Seit 1590 wird am Donnerstag nach dem ersten Advent im Herforder Stadtteil Radewig ein "Kohlfest" gefeiert. Im Jahre 1530 wurde nach Unruhen im Zuge der Reformation die Jakobikirche in Radewig geschlossen. In den folgenden knapp 60 Jahren sollte die als Treffpunkt für Pilger auf ihrem Marsch nach Santiago de Compostela dienende Kirche leer stehen und dem Verfall preisgegeben werden. Doch als Antonius Brudtlacht 1588 zum Bürgermeister ernannt wurde, begann die Renovierung der gotischen Hallenkirche. Am 5.12.1590 strahlte die Kirche in neuem Glanz und zur Feier des Tages lud Brudtlacht die städtischen und kirchlichen Vertreter zu einem Mittagsmahl ein: Grünkohl mit Mettwurst. Diese Speisenfolge hat sich bis heute bewahrt und findet im "Kohlfest" - welches in den Familien privat begangen wird - ihre Entsprechung.

Doch nicht nur in ländlichen Kleinstädten Norddeutschlands war der Grünkohl zum bevorzugten Gemüse geworden, auch in Großstädten wie Hamburg stand er auf dem Speisezettel. So verzeichnet der Speiseplan eines Hamburger Waisenhauses im Jahre 1604: "Donnerstag Grüner Kohl mit Speck, oder Erbsen mit Speck und Butterbrot." Aus einer Fülle von Reisebeschreibungen, die vermehrt im Ausgang des 18. Jahrhunderts einsetzten, wird es möglich, einen Einblick in den Kochtopf und damit in die damaligen Essgewohnheiten der Norddeutschen zu bekommen. Als Beispiel sei hier der Bericht von J.G. Hoche genannt, der nach seiner Reise durch das Saterland, einer Region in Nordwestdeutschland, die ungefähr dem Landkreis Cloppenburg entspricht, bemerkte: "Ihre Speisen (=die der Saterländer) sind nicht ausgesucht, sie genießen sie aber in großen Quantitäten .... Schinken, geräuchertes Fleisch, schwarzes Brot, Kartoffeln, mehrere Arten braunen Kohl, Butter und Käse, sind die gewöhnlichen Nahrungsmittel." Übrigens lebt hier die heute noch kleinste anerkannte Sprachminderheit Deutschlands, die Saterfriesen.

Eine Kohl- und Pinkelfahrt ist also typisch norddeutsch. In vielen Gemeinden, in denen Grünkohl angebaut wird, werden auch Kohlkönige gekürt. Besonders die Stadt Oldenburg benutzt das "Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten", um einmal jährlich im politischen Berlin für sich zu werben und einen Politiker als "Oldenburger Kohlkönig" zu wählen. So wurde zum Beispiel Helmut Kohl 1984 zum Grünkohlkönig in Bonn gewählt, Otto Schily wurde im Januar 1999 in Berlin zum Grünkohlkönig gekürt, Guido Westerwelle war 46. Oldenburger Grünkohlkönig und Christian Wulff wurde am 24.Januar 2005 zum 48. Grünkohlkönig ernannt. Aktueller Grünkohlkönig ist Günter Verheugen. Die Stadt hofft, dass sich der "König" oder die "Königin" in ihrer "Amtszeit" für die Interessen der Stadt einsetzt und diese zumindest einmal offiziell besucht. Die bereits an anderer Stelle erwähnten Grünkohlzutaten sind in Bremen und Oldenburg zum einen der Grünkohl und zum anderen die Pinkelwurst. Der Grünkohl (Brassica oleracea convar. Acephala variatio sabellica) gehört zur Familie der Kreuzblütengewächse (Brassicaceae). Es ist ein typisches Wintergemüse und eine Zuchtform des Kohls (Brassica oleracea). Regional wird er auch Braunkohl (beispielsweise in Braunschweig, Magdeburg und Bremen) oder Krauskohl genannt. In der Schweiz ist er unter den Namen Federkohl bekannt. In Ostwestfalen trägt er den seinen Wuchs umschreibenden Namen "Lippische Palme", weiter nördlich "Oldenburger bzw. Friesische Palme".

Wann und wo Grünkohl erstmalig verzehrt wurde verschwindet im Nebel der prähistorischen Ursuppe. Die Nahrungsforschung hielt sich bislang bei der Stellung und Geschichte des Kohls als Mahlzeit bedeckt. Einen ersten zeitlichen Hinweis liefert uns Reay Tannahill in ihrer "Kulturgeschichte des Essens. Von der letzten Eiszeit bis heute", ohne jedoch die Quellengrundlage offen zu legen. In einem Abschnitt über die prähistorische Welt stellt sie fest: "Zu den Grüngemüsen, deren Geschichte sich in Europa und Asien bis in die fernste Vergangenheit zurückverfolgen lässt, gehören vor allem die verschiedenen Kohlarten". Verschiedene seriöse Quellen weisen jedoch daraufhin, dass der Grünkohl seinen Ursprung wahrscheinlich in Griechenland genommen hat. Dort wird jedenfalls erstmals 400 v.Chr. ein krausblättriger Blattkohl beschrieben, der später bei den Römern als Sabellinischer Kohl bezeichnet wurde und in der römischen Küche als Delikatesse zählte. Dieser Kohl ist wohl der Vorläufer des heutigen Grünkohls. Andere Quellen verweisen darauf, dass der Weißkohl und vor allem der Wirsing, ebenso Blumenkohl und Rosenkohl offensichtlich mit dem römischen Gartenbauwesen über die Klöster zu uns gekommen sind, während es sich bei dem Grünkohl wohl um eine alteingebürgerte Pflanze, von der sich Wildformen oder verwilderte Formen an der gesamten atlantischen Westküste, bis nach England und Irland und auch auf Helgoland und der dänischen Insel Lolland befinden, handelt. Es lässt sich heute nicht mehr genau ausmachen, ob der Grünkohl altheimisch oder sehr früh durch Völkerverkehr vom Süden her durch die Kelten zu den Germanen gekommen ist."

Eine weniger seriöse Quelle will uns folgende Geschichte erzählen: "Der Grünkohl kommt ursprünglichhoch aus dem Atlasgebirge in Nordafrika und galt bei den Berbern als Unkraut. 800-900n.Chr. sollen die Wikinger bei ihren Mittelmeerkreuz- und Raubfahrten auch den Grünkohl samt Wurzelwerk mit in die Heimat geschleppt haben , um ihre heimischen Gärten zu schmücken. Im Schicksalsjahr 896 n.Chr. vernichteten Käferarten die gesamte Weißkohlernte in Nordeuropa, neben eingelegten Heringen, Pökelfleisch und Räucherwürsten die Hauptnahrung in den langen Winterperioden. Die ersten Fröste zogen über das Land und Meer und die not war so groß, dass die ersten Jungfrauen geopfert wurden, um Wotan gnädig zu stimmen. Der große Wotan erbarmte sich und sandte Erleuchtung, dass man die "ungenießbaren" Strünke (Grünkohl) nach den ersten Nachtfrösten nicht nur essen sondern richtig zubereitet herrlich genießen konnte."

Der Grünkohl ist eine außerordentlich genügsame Pflanze, die zu jeder Jahreszeit, selbst unter ungünstigsten Witterungs- und Bodenverhältnissen kaum der Pflege bedarf. Zudem können bestimmte Sorten als Viehfutter verwendet werden, so dass Mensch und Tier ein Auskommen haben. Da die Ernte nach dem ersten Frost einsetzt (dadurch wird das Ungeziefer vernichtet und der Kohl nimmt einen süßlichen Geschmack an) und sich je nach Bedarf bis ins Frühjahr hineinziehen kann, entfällt im Gegensatz zu anderen Gemüsen oder Getreidesorten die Vorratshaltung im Winter. Der Kohl bleibt auf dem Feld stehen und kann täglich frisch geerntet werden. Ein zeitgenössischer Bericht aus Ostfriesland belegt die Vorzüge: "Der Strunkkohl (= Grünkohl), so genannt, weil seine krausen Blätter an einem hoch emporschießenden Strunk wachsen, wird dagegen (im Vergleich zum Kopfkohl) viel angebaut, in allen Gegenden des Landes. Er ist auf der Marsch, nächst den Kartoffeln, das Hauptnahrungsmittel im Winter, und eine der beliebtesten Speisen, die häufig dreimahl wöchentlich auf den Tisch kommt; auch die Bürger in den Städten essen ihn gern, und selbst die Vornehmeren verschmähn ihn nicht .... Auch als Viehfutter wird er auf fast jeden Marschplatz und selbst den bessern Gegenden der Gast(= Geest), namentlich den am Rand derselben, vielfältig gebauet, wiewohl solches in Vergleich gegen den Futtergewächsbau in Deutschland kaum in Anmerkung kommt .... Er lässt sich in den allertrockensten Sommern, wie dem jetzigen, versetzen, wurzelt, wenn man ihn nur ein paarmahl angießt, gleich ein, und wächst fast so gut fort als in feuchtem Wetter .... Bei feuchter Witterung, wenn Kopfkohl bloß Blätter und schlechte Köpfe ansetzt, Kartoffeln, Steckrüben etc. faulig werden, leidet unser Kohl gar nicht, und von Insekten und sonstigem Ungeziefer weniger wie andre Gewächse .... Ein wichtiger Vortheil dieses Gemüses ist endlich noch seine Ausdauer im Winter. Frost, statt zu schaden, macht ihn vielmehr noch besser; er nimmt erst, wenn er tüchtig durchgefroren, einen angenehmen süßen Geschmack an, der ihn zur Speisung beliebt macht. Den ganzen Winter durch bleibt er auf der Stelle stehen, wo er gewachsen, und sehr selten dass er Schaden leidet; noch tief im Frühling ist er so frisch wie im Winter, und erst wenn die Blüthenstengel hervorkommen, wird er wässeriger. Man kann also täglich seinen Bedarf davon holen, und hat nicht nötig im Herbst alles auf einmahl einzufahren welches so höchst unbequem bei den ohnehin überhäuften Feldarbeiten ist; darf nicht einmahl für einen Aufbewahrungsort im Winter sorgen." (Arends III 1820)

Grünkohl kann also den ganzen Winter über geerntet werden, allerdings sollten Kaltfröste ab -10 Grad C und mehr vermieden werden. Es heißt oft, durch den Frost würde ein Teil der im Grünkohl enthaltenen Stärke in Zucker umgewandelt, weshalb der nach den ersten Frösten geerntete Kohl besser schmecke. Tatsächlich spielen Frost und Stärke keine Rolle, sondern es kommt auf die späte Ernte und allgemein kühle Temperaturen an. Reifer Grünkohl enthält kaum noch Stärke, die umgewandelt werden könnte, bildet durch die Photosynthese aber weiterhin Traubenzucker. Durch die kühlen Temperaturen verlangsamen sich die Stoffwechselvorgänge allgemein, besonders die Tätigkeit des Enzyms Phosphofructokinase wird stark gehemmt - der Zuckergehalt der Kohlblätter steigt an. Da diese Traubenzuckeranreicherung nur bei der lebenden Pflanze stattfindet und der Frost selbst keine Rolle spielt, kann der Effekt der späten Ernte nicht durch kurzes Einlagern des geernteten Kohls in der Kältetruhe imitiert werden. "In de Kohltiet kann de Doktor op Reisen gahn", heißt ein altes Sprichwort. Es hat recht. Die moderne Ernährungswissenschaft hat festgestellt, dass Grünkohl ein überaus gesundes Gemüse ist. Im Grünkohl ist zehnmal so viel Karotin enthalten wie im Weißkohl, doppelt so viel Eiweiß wie im Blumenkohl und fast so viel Vitamin C wie in der Paprika. Im Grünkohl sind zusätzlich enthalten: Vitamin A, E, B1, B2, B6, Niacin und Folsäure, außerdem Kalium, Calcium, Phosphor und Eisen. Langes Kochen kann dem Vitamingehalt des Wintergemüse nicht viel anhaben. Gerade die im Winter so wichtigen Vitamine A, C und E werden durch den Kochvorgang erst richtig feigesetzt. Wer also im Winter viel Grünkohl isst, dem kann die kalte, feuchte Jahreszeit nicht viel anhaben und er kann auf teure Vitamin-Brausetabletten verzichten.
Die dem Grünkohl beigemessene Heilkraft wurde bereits in vorchristlicher Zeit bei der Behandlung von Geschwüren und des Alkoholismus eingesetzt (Vor allen Dingen bei der letzten Indikation und einem daraus resultierenden möglichen Therapieerfolg dürften heutzutage berechtigte Zweifel auftreten, wenn man die Teilnehmer der Kohl- und Pinkelfahrten in vivo studiert.). Auch heute finden sich in ländlichen Gegenden noch Rudimente des auf die medizinische Wirkung des Grünkohls hoffenden Volksglaubens: So sollen bei gezieltem Anlegen der in heißem Wasser zusammengefallenen Kohlblätter die Kopfschmerzen des Patienten rasch verschwinden; ebenso erlösende Wirkung sagt man der Pflanze bei Augenentzündungen nach. Doch auch unter Gliedersteifheit leidende Schweine sollen von ihren Leiden erlöst werden, wenn man ihnen Kohlblätter zum Fressen gibt - diese müssen allerdings gestohlen worden sein.

Inwieweit die beschriebenen Behandlungsmethoden tatsächlich die erhoffte Wirkung zeigten oder im Bereich des Aberglaubens anzusiedeln sind, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. In der Literatur findet sich eine Fülle von Nachweisen, die den Volksaberglauben rund um den Grünkohl belegen und als kulturelle Indikatoren Aussagekraft besitzen. So musste man in der Heiligen Nacht in der ehemaligen Provinz Hannover aus dem Garten Braunkohl holen und ihn den Pferden und Kühen zum Fressen geben, damit diese keinen Luftröhrenkatarrh oder Blähungen bekamen. Ähnlich verfuhr man in der Sylvesternacht: Der Knecht musste mit gestohlenem Kohl in den Stall gehen und die Pferde füttern, um das ganze Jahr hindurch gesunde und glänzende Tiere zu haben. Und in der gleichen Quelle heißt es: "Wer an Weihnachten keinen Braunkohl isst, bekommt Eselsohren." (Handwörterbuch des Aberglaubens 1927). In vergangenen Zeiten galt der Grünkohl als fester Bestandteil der Frühlingsmahlzeiten, die sinnbildlich am Gründonnerstag abgehalten wurden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Ostfriesland eine Frühlingsmahlzeit gegessen, die den Menschen Kraft und Frische nach den überstandenen Wintermonaten verleihen sollte. Dabei wurde dieses kultische Mahl aus sieben oder neun verschiedenen Kräutern zubereitet, dem als Beilage Grünkohl hinzugefügt wurde. Die volkstümlichen Bezeichnungen des Gerichtes waren "Sövenderlei" oder "Negenderlei" , auch "Negenkraft" oder "Negenstärke". Dabei war der Bezug zu den mystisch-symbolischen Bedeutungen der Zahlen 7 und 9 gewollt und nicht zu übersehen. Dem Gericht sollte dadurch zusätzliche Heilkraft verliehen werden. In Teilen Ostfrieslands (z.B. in Esens, Wittmund oder Aurich) wird heute noch in einigen Familien am Gründonnerstag letztmalig in der Saison Grünkohl auf den Tisch gebracht. (Teile dieser meiner "Grünkohlodyssee" habe ich aus Martin Westphals Diplomarbeit: " Kohl- und Pinkelfahrten", Münster 1988, F. Coppenrath Verlag, entnommen.)

Pinkel

Die geräucherte Grützwurst mit dem etwas irreführenden Namen "Pinkel" wird eigens für die Grünkohlsaison hergestellt. Es gibt wohl kein anderes Gericht in Norddeutschland, in der die Pinkelwurst Verwendung findet, sie gehört ultimativ zum Bremer und Oldenburger Grünkohl dazu. Ohne sie schmeckt der Kohl nur halb so gut, meinen jedenfalls die hiesigen eingefleischten Grünkohlfans. Sie gibt ihm die Würze und einige Köche dicken den Kohl, statt mit Hafergrütze oder Haferflocken, mit aufgeschnittener Pinkelwurst an. Es gibt kein allgemein gültiges Pinkelwurstrezept. Sie besteht im wesentlichen aus Speck, Grütze von Hafer oder Gerste, Rindertalg, Schweineschmalz, Zwiebeln, Salz und Pfeffer sowie anderen Gewürzen. Die genaue Zusammensetzung der Rezeptur wird von den jeweiligen Schlachtern als Betriebsgeheimnis gehütet und ist von Dorf zu Dorf durchaus unterschiedlich. Qualitativ hochwertigere Pinkel werden als Fleisch-Pinkel bezeichnet.

Den Namen hat die Wurst von ihrer Hülle. So bedeutet ostfriesisch pink übersetzt "kleiner Finger", "Geschlechtsglied" oder auch "kleine Wurst" und der Mastdarm von Schwein bzw. Ochsen wird mit dem schönen plattdeutschen Namen "Pinkeldarm" bezeichnet. In diesen Pinkeldarm stopfte man früher die Wurstzutaten hinein. "Wenn die Wurst dann zum Räuchern in die Räucherkammer gehängt wurde und das gelbliche Fett, durch die Wärme bedingt, nur so durch den Darm triefte, der mit ein wenig Phantasie an einen tropfenden Penis erinnerte, sagte man: "Oh de Wurst de pinkelt". Eine Original-Pinkel bekommt man kaum noch. Die Wurstmasse steckt heute in einem Kunstdarm oder in einem Leinensäckchen. Zum Verzehr muss deshalb die Wurst von ihrer Pelle befreit werden.